Posted by on 20. März 2020

Hier ein paar Fakten über die Dehnungshaltung, die Euch vielleicht ein wenig Leitfaden sein können. Weil ich finde, dass selber denken, dann entscheiden und zu allerletzt aber genauso wichtig: selber Verantwortung übernehmen die beste Art im Umgang mit unserem Partner Pferd ist.

Die Dehnungshaltung

Jeder redet von der Dehnungshaltung, aber wer reitet sie noch und was ist das überhaupt?

keine Dehnungshaltung!

Pferd hinter der Senkrechten, Maul aufgesperrt, Nüstern weit weil zu wenig Luft eingeatmet werden kann, Rücken durchhängend, Bauchmuskulatur atonisch, in den Fesselgelenken durchfallend.

Dass das keine Dehnungshaltung ist, kann wohl hier jeder sehen.

Was Dehnungshaltung wirklich ist, ist gar nicht so einfach erklärt. Häufig wird gesagt, dass die dorsale Muskulatur des Pferdes, also die Oberhalsmuskulatur und die Rückenmuskulatur in der Dehnung arbeiten soll. Aber so einfach ist das nicht. Eigentlich ist es nämlich so, dass die dorsale (rückenseitige) Muskulatur und die ventrale (bauchseitige) Muskulatur in einer Art Gleichgewicht oder in einer leicht gedehnten Position arbeiten sollen. Dabei ist der Tonus der dorsalen und ventralen Anteile (und natürlich auch der linken und rechten Körperhälfte) gleich. Dadurch besteht in allen Faszien eine gleichmäßige Spannung, so dass die Fasziensysteme an der Tragearbeit und der Stoßfederung beteiligt sind. Hängt die dorsale oder ventrale oder eine der gekreuzten Faszien durch, verliert der Pferdekörper an Stabilität und die Muskulatur wird vermehrt belastet.

Faszienverlauf
MYOFASCIA – THE UNEXPLORED TISSUE: MYOFASCIAL KINETIC LINES IN HORSES, A MODEL FOR DESCRIBING LOCOMOTION USING COMPARATIVE DISSECTION STUDIES DERIVED FROM HUMAN LINES Wibeke Sødring Elbrønd, Rikke Mark Schultz, Department of Clinical Veterinary Animal Science, Faculty of Health Sciences, University of Copenhagen; Denmark.

Es entstehen abnorme Bewegungsmuster und osteopathische Läsionen. Aus diesen resultieren am Ende Lahmheiten und Verletzungen der Muskulatur und des Bandapparates, aber auch der Gelenke und Knochen.
Wie komplex das Erreichen einer Dehnungshaltung tatsächlich ist, möchte ich Euch am Beispiel des Halses erklären.

Muskulatur bei der Arbeit in Dehnungshaltung

Muskeln kann man nie als isolierte Bestandteile sehen, sondern sie funktionieren immer in einer Art Verbundsystem. Ein Muskel A hat immer einen Gegenspieler B (Antagonisten), der in dem Moment, in dem sich Muskel A anspannt, locker lassen muss. Sonst kann sich zwar Muskel A kontrahieren, tut dies aber gegen einen Widerstand und bewegt deshalb das Gelenk nicht so, wie er es sollte.
Und dann hat Muskel A noch Synergisten, also Muskel C, der eine ähnliche aber nicht gleiche Funktion hat wie Muskel A.

Die Regulation dieser Bewegung erfolgt über das Nervensystem, über gamma- und alpha- Neurone und über propriozeptive System in Muskeln, Sehnen und Gelenken.

Der M. rectus capitis dorsalis major und sein Antagonist der M. sternocephalicus.

Der M. rectus capitis dorsalis major ist der Extensor des Kopfes, dass heißt wenn er sich kontrahiert nimmt das Pferd die Nase nach oben. Dieser Muskel gehört zur dorsalen (Ober-)Halsmuskulatur. Der M. sternocephalicus ist ein starker Beuger des Kopfes und des Halses! und gehört zur ventralen (Unter-)Halsmuskulatur. d.h. kontrahiert sich diese Muskel, nimmt das Pferd die Nase nach unten und rollt Hals ein. Es ist also wichtig, das auch dieser Unterhalsmuskel in Dehnungshaltung arbeitet.

Muskuläre Dysbalancen

Bei näherer Betrachtung kann man unschwer erkennen, dass der Beuger sehr viel stärker ist, als der kurze, schmale Kopfstrecker.
Das Einrollen von Kopf und Hals – sei es durch die Reiterhand oder weil das Pferd diese Stellung anbietet – zeigt also an, dass der Sternocephalicus in seiner Kontraktion dominiert. Der kleinere Kopfstrecker ist nicht in der Lage, den Kopf vor der Senkrechten zu halten. Der kurze Kopfstrecker wird dabei überdehnt und detonisiert.

Aktivierung der dorsalen Synergisten

Jetzt kann man versuchen, den Kopf des Pferdes von hinter der Senkrechten an die Senkrechte zu reiten. Das an die Senkrechte Reiten würde dann nur noch über die Synergisten des M. rectus capitis dorsalis major funktionieren. Denn der kurze Kopfstrecker kann keinen adäquaten Tonus mehr aufrecht erhalten kann und sich somit auch nicht stärken und auftrainieren.
Also beginnen sich der M. splenius und der M. semispinalis capitis zu kontrahieren. In der Funktion diese beiden Muskeln liegt aber ein Problem. Müssen diese beiden Muskeln zur dorsalen Stabilisation des Kopfes durch Kontraktion beitragen, geht nicht nur die Oberhalsdehnung verloren. Sondern durch die S-Form des Halses und die Lage der beiden Muskeln gerät der Hals in eine Extensionshaltung insbesondere im Bereich des 5. bis 7. Halswirbels.
Dadurch erhöht sich nicht nur der Druck auf die kleinen Wirbelgelenke von C5 bis C7, sondern auf alle kleinen Wirbelgelenke der folgenden Wirbel bis hin zum Sakrum.

Aktivierung der ventralen Synergisten

Um der Extensionshaltung entgegen zu wirken und weil er vom gleichen Nerven, dem Nervus accessorius (11. Gehirnnerv) innerviert wird gerät auch der M. brachiocepahilcus in einen Hypertonus. Im Grunde haben wir jetzt einen extrem kurzen angespannten Hals mit einer Extension im Bereich C5 bis C7, eine durchhängende ventrale Faszie. Damit bekommen wir einen instabilen Rumpf und durchsackende Fesselgelenke aufgrund der fehlenden Faszienspannung. Das Schultergelenk kann sich nicht mehr vollständig strecken. Die Vordergliedmaße arbeitet übertrieben hoch und nicht mehr im Gleichmaß vor und hinter der Senkrechten durch das Schultergelenk.

Diese Extensionshaltung setzt sich in die kaudalen Bereich der Wirbelsäule fort, ein Aufwölben des Rückens ist also nicht mehr möglich. Außerdem fällt der Thorax zwischen den Schulterblättern nach unten, das Pferd trägt sich nicht und richtet sich auch nicht reel auf. Die Aufrichten erfolgt über den Zügel, man spricht von absoluter Aufrichtung. Neueste Forschungen zeigen, dass diese Körperhaltung auch Ursache des gehäuften Auftretens von Head shakern sein könnte.

ohne Ruecken

Pferd das von hinter der Senkrechten durch “Aktivierung” Hinterhand und “Vorwärtsreiten” an die Senkrechte heran geritten wurde. Pferd in absoluter Aufrichtung, im Prinzip der gleiche Fall wie Bild Nr. 1. Die Vorhand greift übertrieben nach vorne aus und arbeitet nicht mehr nach hinten, während es sich bei der Hinterhand genau gegensätzlich verhält. Durch das Durchhängen des Rückens und die detonisierte Bauchmuskulatur arbeitet die angebliche aktive Hinterhand nur noch hinter der Senkrechten durch das Hüftgelenk. Der Motor oder Schwung nach vorne fehlt völlig. Dies ist eben keine aktive Hinterhand und der Rücken ist nicht in Dehnungshaltung, sondern genau das Gegenteil ist der Fall.

Von vor der Senkrechten an die Senkrechte

Viele unserer heutigen Sportpferde zeigen von Anfang an die Tendenz, sich einzurollen und nicht an das Gebiss heran treten zu wollen. Wenn man sich den Mechanismus der Muskelrekrutierung ansieht, sollte man erkennen, dass es nicht möglich ist, ein Pferd korrekt von hinten vor die Senkrechte zu reiten. Es ist auch nicht tolerabel, Pferden die bereits hinter der Senkrechten sind in Anlehnung hinter der Senkrechten weiter zu reiten. Die einzig sinnvolle Korrektur erfolgt über die vollkommene Reduzierung der Anlehnung und die Übung der Balance. Dies erfolgt einerseits durch ein sorgfältiges Überprüfen des Taktes und andererseits durch eine Behandlung von osteotherapeutischen Läsionen.
Denn nur ein Pferd, dessen Muskeltonus links wie rechts, oben wie unten normalisiert und gleichmäßig ist, kann auch seine Balance finden.

sich selbst tragendes Pferde, vor der Senkrechten

Taktvoll vor der Senkrechten gehendes Pferde, sich selbst tragend, Schwung bereits entwickelt. Das Pferd sucht aktiv die Anlehnung nach vorne an die Hand. In diesem Stadium macht es Sinn, Anlehnung zu geben. Anlehnen, nicht anstehen. Beinbewegung vor und hinter der Senkrechten durch das Schulter- und das Hüftgelenk gleich groß. Guter Tonus von Muskulatur und Faszien, sehr guter Schwung und der Rücken in perfekter Dehnungshaltung.

Der Takt macht den Tänzer

Takt hat nichts mit Schwung zu tun und er kann auch nicht fleißig sein. Takt kann immer nur so schnell sein, wie das Pferd im momentanen Ausbildungsstand in der Lage ist, seine Bewegung losgelassen zu beenden. Ein verhaltenes Tempo oder ausdruckslose Bewegungen sind immer Anzeichen für fehlende Balance und damit osteopathische Probleme und dadurch eine nicht entwickelte Tragkraft. Das Reiten über den momentan physiologischen Takt hinaus macht das Pferd nicht “schwungvoller”. Sondern es führt immer zu Verspannungen der Muskulatur, zu kurzen spannigen Bewegungen und zu Bewegungsstörungen. Eine derartige Muskulatur ist schlecht durchblutet, neigt zu Kontrakturen und Verkürzungen der tonischen (Haltemuskulatur) und Schwächung der phasischen oder Bewegungsmuskulatur.

Richtiges Muskeltraining in Dehnungshaltung

Auch hier ist weniger mehr. Insbesondere beim Tempo. Als Anhaltspunkt bei der Arbeit auf dem Zirkel gilt: wenn das Pferd sich auf dem Zirkel nicht mehr nach innen lehnt, ist der physiologische Takt erreicht. Wenn sich das Pferd auf der Zirkellinie nicht nach innen lehnen muss ist auch die Belastung der Gelenkflächen gleichmäßig. Denn auch langes Longieren schadet nicht zwangsläufig den Gelenken. Es schadet nur dann, wenn die Gelenke schief belastet werden. Und auch wenn die Bewegung zu Beginn flach und ausdruckslos aussieht, haltet das Tempo gering. Ist die Muskulatur geschädigt oder noch nicht trainiert genug, wirken Bewegungen häufig flach und ausdruckslos. Muskulatur lernt über Wiederholungen. 160 aufeinander folgende korrekte Wiederholungen.

Und warum nicht vorwärts? Die Muskeln lernen doch immer? Einen Grund habe ich schon 2 Absätze weiter oben genannt. Der andere Grund ist, dass schnelle, weit ausgreifende Bewegungen über die energiespeichernden Systeme des Pferdekörpers entstehen. Schwung entsteht aber über Muskelkraft und koordinierte Muskelbewegung. Auch die Ausdrucksstärke der Bewegung entwickelt sich aus Koordination.
Über die Faszien, die energy storing Tendons (Beugesehnen) und den Bandapparat. Also trainiert “viel vorwärts” nicht die Muskulatur, sondern resultiert aus dem Einsatz dieser Strukturen. Allerdings können Faszien und Sehnen bei Verspannungen der Muskulatur und verminderter Flüssigkeitsversorgung auch nicht mehr störungsfrei arbeiten.