Posted by on 13. Juni 2018

Häufig zitierte Märchen der Biomechanik der Wirbelsäule

Ich möchte hier gerne einmal mit einigen Fehlinformationen aufräumen, die mir auf Vorträgen bezüglich der Biomechanik der Wirbelsäule untergekommen sind.

  • Pferde dürfen den Hals nicht fallen lassen während des Reitens, das A und O der Reiterei sei die Aufrichtung. In gesenkter Kopf-Hals-Haltung würde sowieso nur die untere Halsmuskulatur arbeiten.

  • Die Wirbelsäule kann sich gar nicht Beugen (Flexion), sondern lediglich eine Rotationsbewegung ausführen.

Generell sollte man dazu wissen, dass die Muskulatur nicht nur in Verkürzung (Kontraktion) arbeitet. Und dieses Arbeitsprinzip muss man im Hinterkopf behalten, egal welche Bewegung analysiert wird.
Muskulatur hat nicht nur die 2 Zustände kontrahiert und schlapp. Der Begriff Losgelassenheit bedeutet auch nicht, dass ein Pferd mit hängenden Ohren und schlabbernden Gliedmaßen durch die Bahn schlurft.

Ein Muskel der Dekontrahiert, geht in seinen Grundtonus (Tonus = isometrischen Muskelarbeit s.u.) zurück und der ist nicht Null. Sondern ein Zustand in dem er mit seinen Synergisten zusammen entgegen der Kraft der Antagonisten das Gelenk in einer Nullstellung hält.
Das bedeutet, das Gelenk steht genau in der Mitte seines Bewegungsbereiches. Ob das Pferd in seinen Agonisten und Antagonisten die Spannung 3 oder 8 besitzt, ist dabei abhängig vom Trainings- und Ausbildungsstand.

    Wichtig ist nur

      Spannung aller Agonisten = Spannung aller Antagonisten

      und

      Spannung linke Körperhälfte = Spannung rechte Körperhälfte

Daraus entsteht übrigens Balance als Grundvoraussetzung für den Takt.

Ist dieses Gleichgewicht nicht gegeben, spricht man von einer Osteopathischen Läsion oder Dysfunktion

Aber über Takt, Losgelassenheit und Anlehnung kann man tagesfüllende Vorträge halten. Ich halte das auch für viel wichtiger, als die Beschäftigung mit der Aufrichtung. Die kommt von alleine, wenn ein Pferd anhand der Skala der Ausbildung trainiert wird und gewisse Biomechanische Grundregeln bekannt sind und beachtet werden.

Betrachten wir also erst einmal die

    Arbeitsweise Muskulatur:

      1. Konzentrische Arbeit d.h. die Muskelspannung verändert sich und der Muskel verkürzt (positiv dynamisch)
      2. Isometrische Arbeit d.h. die Muskelspannung verändert sich und die Muskellänge bleibt konstant
      3. Exzentrische Arbeit d.h. die Muskelspannung verändert sich und der Muskel verlängert sich (negativ dynamisch, schwerste Form der Arbeit)

Zur Flexion und Extension der Wirbelsäule und ihr Nutzen für die Reiterei

    Teil 1: Halshaltung

      In einer korrekten Kopf-Hals-Position ist die Unterhalsmuskulatur in konzentrischer Arbeit – nicht was das Senken des Kopfes betrifft – sondern Teile der Unterhalsmuskulatur sind für das Heben der Vordergliedmaße verantwortlich.
      Deshalb arbeiten sie konzentrisch. Ansonsten arbeitet sie zum größtenteil isometrisch.

      Die obere Halsmuskulatur insbesondere der M. longissimus colli aber auch die langen Kopfstrecker arbeiten exzentrisch. Sie sind also nicht schlaff oder entspannt, wie das manchmal so unzutreffend dargestellt wird.
      Schlaff sind die dorsalen Hals- und Rückenmuskeln nur in Sedation, dann hängt der Kopf, soweit es die Nackenbänder zulassen, nämlich bis kurz über den Boden. Bedeutet aber nicht, dass Pferde, die sich im wachen Zustand bis kurz über den Boden Dehnen, keinen Tonus in der oberen Halsmuskulatur haben.
      In einer korrekten Dehnungshaltung arbeitet die obere Halsmuskulatur insofern, als dass sie den Kopf des Pferdes entgegen der Schwerkraft trägt. Exzentrisch und mit höchster Kraftenfaltung.
      Und Schäden in den Nackenbändern stammen nicht daher, dass die Pferde den Hals besonders tief fallen lassen. Sondern daher, dass sie mit dem Kopf hinter der Senkrechten geritten werden (keine Dehnung in den Ganaschen). Damit werden die Kopfstrecker und die Nackenbänder überdehnt und geschädigt.

    Um einzuschätzen, wie kraftaufwendig konzentrische oder exzentrische Muskelarbeit wirklich ist könnt ihr einfach mal testen was anstrengender ist:

      Nehmt 5 kg (bei zart besaiteten sollten 2 kg genügen) in die rechte Hand und haltet euren Arm in einer 90° Beugung.
      Beugt den Arm mit dem Gewicht langsam und streckt ihn wieder bis auf 90° und testet wie schwer es euch fällt.
      Und dann streckt den Arm bis auf fast 180°und beugt wieder bis auf 90°. Haltet immer gegen das Gewicht und macht die Bewegung schön langsam.
      Versucht einfach, wie viele Wiederholungen ihr in die Beugung und wieviele ihr in die Streckung schafft.

Damit wäre dann geklärt, ob die obere Halsmuskulatur in der Dehnungshaltung arbeiten muss.
Ja und zwar mehr als die untere.

Und die Frage, wie hoch oder tief, kurz oder lang das Pferd seinen Hals tragen soll beantwortet sich aus

1. Dem Ausbildungsstand des jeweiligen Pferdes

    Der beim jungen Pferd gesenkte und nach vorne gedehnte Hals ist nichts anderes als ein Hilfsmittel, mit dem das Pferd sein Gleichgewicht (der Hals als Balancierstange) sucht und mit dem es zu Anfang versucht, das Reitergewicht durch das Nackenband und nicht durch die Muskulatur zu tragen. Muskulatur ermüdet. Das Nackenband nicht.
    Je höher der Hals getragen wird, umso weniger trägt das Nackenband. Pferde mit gering ausgebildeter tragender Muskulatur ermüden dann schnell.
    Je höher der Hals getragen wird, umso höher liegt der Schwerpunkt des Pferdes. Und umso schwerer ist es für ein nicht ausbalanciertes Pferd in Balance zu finden.
    Je kürzer der Hals gemacht wird, umso weniger hilft er dem Pferd als Balancierstange: Das macht es für das Pferd wieder schwieriger die Balance zu finden.
    Das alles hat nichts mit dem zu tun, was ich glaube, sondern ist simple Physik.
    Ihr findet wahrscheinlich keinen einzigen Seiltänzer, der einen Zahnstocher mit ausgestreckten Armen hoch über seinem Kopf hält.

2. Der Anatomie des Pferdes

    Pferde mit kraftvollem, kurzen Rumpf sind schneller zu trainieren und müssen weniger Tragearbeit in der Rückenmuskulatur leisten. Deshalb kann man sie schneller Aufrichten als ein Rechteckpferd im Vollbluttyp. Diese Pferde sind wahrscheinlich auch schneller im Gleichgewicht. Allerdings entwickeln sie auch weniger Schwung.

3. Dem Vorhandensein osteopathischer und orthopädischer Probleme

    Pferde mit osteopathischen Läsionen oder gar knöchernen Veränderungen im Bereich der thoraxnahen Halswirbel sind nicht besonders dankbar, wenn ihr sie im Hals aufrichtet. Dazu muss man wissen, dass die Flektion der Wirbelsäule, die Seitneigung und Rotation der einzelnen Wirbel erleichtert. Wenn das Pferd also von seiner Beweglichkeit durch Arthrosen oder Muskelverspannungen und Bandläsionen eingeschränkt ist, macht es Sinn, ihm durch Flektion die Bewegung zu erleichtern.
    Das gilt übrigens nicht nur für Pferde mit Problemen im Bereich der Hals- oder Rückenwirbelsäule. Sondern auch für das gesunde Pferd.
    Ist die Wirbewlsäule in Flektion, könnt ihr eure Pferde leichter Stellen und Biegen.

Und nur, weil das Pferd seinen Kopf tief trägt, muss es noch lange nicht auf die Vorhand fallen.

Wer das glaubt, hat den Begriff “relative Aufrichtung” nicht verstanden.

Aufrichtung hat nichts mit der Höhe des Kopfes zu tun, sondern mit der Fähigkeit des Pferdes, sich selbst zwischen seinen Vorderbeinen zu heben und zu tragen.

Mit Kopf hoch oder tief (immer vorausgesetzt die Ganaschen sind in Dehnungshaltung und das Pferd dehnt sich ans Gebiß) hat Aufrichtung jedenfalls nichts zu tun.
Wirklich gut ausgebildete Pferde schaffen es, ihren Kopf bis tief über den Boden zu halten, dabei in Dehnungshaltung zu bleiben und den Widerrist immer noch deutlich zwischen den Vorderbeinen zu heben.


Waiki im Training an der Longe, Andrea Bethge, playful.piaffe

Natürlich verändert sich dadurch die Arbeit in der Hinterhand (Winkelung im Hüftgelenk wird kleiner), dem muss dann eben einfach Rechnung getragen werden.

Biomechnik der Wirbelsäule Teil II folgt demnächst. Schwerpunkt liegt hier auf der Biomechanik der Brust- und Lendenwirbelsäule.